Ist das, was wir heute unterrichten, noch Yoga oder nur seine Hülle?
Als lehrende und praktizierende Personen bewegen wir uns täglich zwischen Trend und Tradition. Daher stellt sich die entscheidende Frage: Ist das, was wir heute unterrichten, noch Yoga – oder nur seine Hülle? In der ersten Folge von MetaMat klären wir, was Yoga nicht ist, wo Mythen uns in die Irre führen, wo die Ursprünge liegen und arbeiten die Essenz heraus, die in modernen Yoga-Klassen oft übersehen wird. Am Ende warten drei sofort umsetzbare Impulse für deinen Unterricht und deine Praxis.
Yoga als lebendige Tradition
Die Yoga-Lehre ist eines der vielfältigsten und wundervollsten spirituellen Angebote aus Indien. Und das Schönste: wir alle sind Teil dieser lebendigen Tradition. Wenn wir die Wurzeln verstehen und anerkennen, können wir als Lehrende und Praktizierende bewusstere Entscheidungen treffen, wie wir diese Tradition weitertragen wollen. Nimm dir einen Moment Zeit und beantworte diese beiden Fragen:
- Wie möchtest du diese Tradition in die moderne Welt tragen?
- Was ist für dich das Herz dieser Lehre?
Denn historisch gesehen war Yoga kein Mainstream-Fitnesskurs.
Es war ein Prozess mit klarem Ziel: Selbsterkenntnis und Befreiung vom Leiden – Moksha.
Yoga-Ursprünge und Kontext
Doch was ist auf dem Weg passiert? Bevor wir uns dieser Frage widmen, ist eines entscheidend – und genau das wird sehr oft übersehen: der Kontext. Der Kontext wurde in der modernen Yogawelt häufig nicht beachtet. Daher dürfen wir die Yoga-Lehre neu kontextualisieren. Wenn man Yoga bis zu seinen Ursprüngen in den Veden zurückverfolgt, wird klar, dass zu dieser Zeit nur eine bestimmte Gruppe von Menschen Zugang zu dieser Lehre hatte. Manche sagen, der Ursprung liege bei den Veden, andere bei den Upanishaden, die als Verinnerlichung der vedischen Rituale gelten.
Jedenfalls war Yoga damals nur einer kleinen Gruppe von Menschen zugänglich. Hier macht es Sinn, sich einmal vor Augen zu führen, für wen die Yoga-Sutra von Patañjali überhaupt geschrieben wurden. Sie wurden von Männern für Männer geschrieben und zwar für diese drei Gruppen:
- Für junge Burschen, die damals in das Priestertum eintraten.
- Für diejenigen, die Ashrams leiteten.
- Für Männer in ihrer letzten Lebensphase. Diese Menschen glaubten an Wiedergeburt, verließen ihre Familien und widmeten sich spiritueller Praxis, um sich auf das nächste Leben vorzubereiten.
Yoga-Tradition in den klassischen Schriften und heute
Das Wort Asana (Yoga-Haltung) wird in den 196 Versen von Patañjalis Yoga-Sutra nur dreimal erwähnt. Und wenn hier von „Asana“ gesprochen wurde, dann waren vor allem Sitzpositionen gemeint. Denn Patañjali war ein absoluter Meditationsfan (bis heute ist übrigens nicht sicher, ob er tatsächlich gelebt hat oder wer er genau war). Hier zeigt sich deutlich: Yoga, wie er früher praktiziert wurde und wie er in den Schriften dargestellt ist, war ganz anders als heute – nicht besser oder schlechter, einfach anders. Die damaligen Yogis beschäftigten sich kaum mit körperlichen Haltungen. Sie praktizierten stattdessen stundenlang Pranayama (Atempraxis) und Meditation. Also, was ist passiert?
Auf dem Weg bis heute ist ein Teil dieses Prozesses selbst „Yoga“ genannt worden – und zwar die Körperpraxis. Wenn du heute deinen Körper beugst und drehst, nennst du das „Yoga“ – obwohl es ursprünglich nur ein Werkzeug war, namens Asana.
Merke dir also: In der modernen Yogawelt ist ein Teil zum Ganzen geworden.
Der Trend heute: Entweder werden die traditionellen Aspekte ignoriert oder bestimmte Teile herausgepickt und als das Ganze dargestellt.
Dein erster Diamant to go: Über das Ziel informieren und das bedeutet, die Wurzeln zu ehren. Es ist unsere moralische Pflicht als Yoga-Lehr:innen, Bewusstsein zu schaffen und Menschen darüber aufzuklären, wo die Ursprünge liegen und was das ursprüngliche Ziel dieser wunderschönen Lehre war.
Mögliche Definitionen der Yoga-Lehre
Wenn wir uns die Definition von Yoga anschauen, wird schnell klar, dass es unzählige Interpretationen gibt. Hier ist Bewusstsein gefragt, denn jegliche Übersetzungen oder Kommentare, die du liest, sind Interpretationen der Autorin oder des Autors – mit deren jeweiligen Filtern. Der Kontext ist ebenso entscheidend, zumal es im Deutschen oder Englischen kaum Äquivalente zum Sanskrit gibt. Nur ein sehr kleiner Teil der Menschen spricht Sanskrit – jede Übersetzung ist also bereits eine Interpretation.
Das Wort „yuj“, von dem Yoga abgeleitet wird, hat 32 Bedeutungen; somit wird klar, dass es eine differenzierte Sichtweise braucht.
Hier einige zentrale Wortbedeutungen:
- Verbinden/Vereinen: Zusammenführung verschiedener Aspekte des Seins.
- Anjochen: Wie zwei Ochsen die unter einem Joch Kräfte bündeln, so bedeutet Yoga, Energie zu fokussieren.
- Konzentration/Beherrschung: Den Geist zu kontrollieren, ein Kernelement des Yoga.
- Vorbereiten/Nutzen: Sich auf etwas ausrichten, etwas meistern.
Im mystischen Sinn bedeutet Yoga die Integration der individuellen Seele mit der höchsten Seele.
Eine der wohl bekanntesten Definitionen der Yoga-Lehre finden wir in den Yoga-Sutra von Patañjali.
Im Kapitel 1, Vers 2 heißt es:
„Yoga citta vritti nirodhaḥ.“
Yoga ist das Zur-Ruhe-Bringen der Fluktuationen des Geistes.
Die Frage ist dann natürlich: Was passiert, wenn die Fluktuationen des Geistes zur Ruhe gebracht wurden? Patañjali antwortet: „Dann sieht der Wahrnehmende seine wahre Natur.“
Yoga als Methode und Zustand
Yoga ist nicht nur die Methode, sondern auch die Wirkung.
Eine Übung wird erst zu Yoga, wenn die innere Getriebenheit zur Ruhe kommt und eine neue Stärke aus der inneren Mitte erfahren wird – diese Kraft, wenn du aufhörst zu machen und dich hingibst.
Die alten Yogis verstanden Yoga als zwei grundlegende Konzepte:
- Yoga als Prozess (paddhati)
- Yoga als Zustand (sthiti)
Die 3 großes Yoga-Mythen
Mythos 1: Yoga ist eine ausschließlich physische Praxis mit dem Ziel der Beweglichkeit
Das ist, als würdest du sagen: Kochen ist nur Schälen. Es ist ein Teil, aber niemals das Ganze.
Yoga bedeutet Vereinigung, Integration, Transformation. Eine Asana ist ein Werkzeug, aber nicht das Ziel. Genauso wie jeder Gedanke nur ein Tool ist. Wie und warum du das Werkzeug einsetzt, hat enorme Bedeutung. Es ist sehr oft nebensächlich, was du machst; die Frage ist: Wie machst du etwas? Welche Absicht steht dahinter? Ist es für dich von Bedeutung, und wozu praktizierst du? Darüber sprechen wir in unserer 200-h-Ausbildung unter dem Thema „Intention Setting“.
Mythos 2: Yoga ist eine Philosophie
Viele glauben, Yoga sei eine Philosophie – das ist aus unserer Sicht ein Missverständnis. Yoga ist keine Philosophie, sondern eine Realität, die man erleben und erforschen kann. Um dir das genauer zu erklären, haben wir drei Unterschiede aufgegriffen:
- Philosophie ist spekulativ – Yoga ist experimentell: Philosophie arbeitet mit Ideen, Konzepten und Überzeugungen. Sie fragt: Was ist Wahrheit, was ist Bewusstsein? Yoga fragt nicht, Yoga zeigt es dir. Yoga lädt zum Ausprobieren, zum Erforschen ein. Es ist wie eine innere Naturwissenschaft: Yoga ist also keine Theorie über Wahrheit. Yoga ist das Erleben von Wahrheit.
- Philosophie kann relativ sein – Yoga ist universell erfahrbar: In der Yoga-Lehre können die Methoden kulturell unterschiedlich aussehen, aber der Kern – die Wirkung auf Bewusstsein, Körper, Energie – ist universell. Wer z. B. meditiert, erlebt Ruhe und Klarheit, egal welcher Religion er angehört. Yoga basiert nicht auf kulturellen Konzepten, sondern auf der Mechanik des Lebens.
- Philosophie bleibt im Intellekt – Yoga transformiert das gesamte Sein: Yoga zielt nicht auf Argumente, sondern auf Transformation. Philosophie verändert vielleicht die Art und Weise, wie du denkst. Yoga verändert, deine ganze Existenzweise. Ziel von Yoga ist nicht „neues Wissen“, sondern Selbsterkenntnis und Befreiung. Ein Zitat von Sokrates beschreibt diesen Zustand sehr gut: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Denn nur dann, hast du Spielraum für echte Erfahrungen.
Kurz gesagt:
- Philosophie: Denken über Realität
- Yoga: Erleben von Realität durch Methode
Beides kann sich ergänzen, aber sie spielen auf unterschiedlichen Ebenen. Ein Bild, das wir dir gerne mitgeben möchten: Philosophie ist wie eine Landkarte. Yoga ist das Gehen selbst. Erst wenn du losgehst, weißt du, ob der Weg stimmt.
Deshalb sagen wir: Yoga ist keine Philosophie, sondern ein Set an Methoden – Methoden, die deine Wahrnehmung erweitern; denn nur das, was du wahrnimmst, ist für dich real. Alles andere ist in deinem Verstand entstanden. Aus diesem Grund ist es von entscheidender Bedeutung, deinen Verstand zu trainieren. Dies hat auch Patañjali erkannt, und man könnte sagen, seine Yoga-Sutra sind ein Leitfaden für Mind-Management.
Aus diesem Grund gibt es Ende August 2026 eine 25h Yoga-Philosophie-Ausbildung, in der wir uns u.a. auch mit der Natur des Verstandes (Mind Management) beschäftigen.
Praktische Implikation für deinen Unterricht:
- Lade zum Forschen ein (Fragen, Beobachten, Reflektieren). Betone, diesen neugierigen neutralen Blick beim Entdecken.
- Richte Stunden so aus, dass Erfahrung wichtiger ist als Erklärung (Meditation, Atem, Stille).
- Nutze Sprache, die Wahrnehmung öffnet (fühlen, spüren, beobachten), nicht nur Konzepte vermittelt. Wir nennen das in unserer 200h Ausbildung: Spürhinweise.
Mythos 3: Fortgeschrittene Asana = Fortgeschrittenes Yoga
Oft entsteht aus dieser Sichtweise ein Streben nach Perfektion und Einzigartigkeit. Doch wahre Tiefe zeigt sich anders: Nicht darin, ob du einen Handstand kannst, sondern wie du atmest, wie du fühlst und wie du anderen Menschen begegnest.
Du kannst in einer einfachen Haltung sitzen und mehr Tiefe erfahren als in der komplexesten Haltung.
Zudem können aus dieser Sichtweise Verletzungen hervorgehen. Vielleicht schädigst du deinen Körper mehr als du ihm Gutes tust, nachdem du ihm immer wieder pushst und in Haltungen reinzwängst, die für dich (noch) nicht optimal sind. Es gibt auch Menschen, die manche Haltungen anatomisch gesehen niemals durchführen können. Daher lehren wir in unserer Ausbildung zwischen Spannung und Kompression zu unterscheiden.
Aber wahrer Fortschritt hat nichts damit zu tun, wie schwer eine Haltung ist, sondern wie tief wir Yoga abseits der Matte verkörpern. Ein „fortgeschrittener Yogi“ ist nicht derjenige, der am längsten auf dem Kopf steht, sondern derjenige, der:
- Den Herausforderungen des Lebens mit Gleichmut begegnet.
- Mitgefühl, Geduld und Einfachheit kultiviert.
- Das Leben ohne Widerstand annimmt.
- Sowohl in Leichtigkeit als auch in Schwierigkeit zufrieden bleibt.
Spirituelle Reife macht das Leben leichter, einfacher und großzügiger – nicht schwerer oder komplexer.
Natürlich ist die physische Praxis lohnenswert – auch, weil sie das Nervensystem vorbereitet und den Körper stärkt. Aber das vertiefen wir in einer unserer nächsten Folgen.
Die Essenz der Yoga-Lehre
Was also ist die Essenz dieser uralten Lehre?
Yoga bedeutet Vereinigung – die Einheit des Universums durch direkte Erfahrung zu erkennen.
Doch wo haben wir heutzutage noch die Möglichkeit, diese Erfahrung zu machen?
The Sound of Silence – in der Stille finden wir alle Antworten
Doch wie oft finden wir in modernen Yoga-Klassen noch Stille?
Es ist nichts Schlechtes oder Falsches daran, Musik in Yoga-Klassen zu verwenden, wir machen das auch, die Frage ist: Bist du dir dieser Essenz bewusst, teilst du sie mit deinen Schüler:innen und baust du auch mal Momente der Stille ein? Wir dürfen aufhören in gut oder schlecht zu kategorisieren und anfangen in bewusst oder unbewusst zu denken.
3 Diamanten to go – für Praxis & Unterricht
- Baue bewusste Stille ein.
Nur ein paar Minuten ohne Musik, ohne Input.
Diese Stille kannst du auch in deinen Klassen einbauen – auch wenn es nur zwei Minuten sind. - Sprich über das Ziel von Yoga.
Befreiung, Selbsterkenntnis, Bewusstsein.
Sei transparent und ehre die Wurzeln dieser Lehre. - Biete Vielfalt an.
Wenn du ein Acht-Gänge-Menü buchst, wärst du enttäuscht, nur einen Gang zu bekommen. Genauso sollte auch Yoga mehr als nur eine Methode bieten – kreiere das Gesamtbild der Yoga-Lehre
Ausblick und Einladung
Wir freuen uns sehr, von dir zu hören, von deinen Erfahrungen, aber auch deinen Herausforderungen. Teile gerne mit uns deine Aha-Momente oder deine Wünsche für kommende Folgen. Fragen sind nicht nur willkommen, sondern erwünscht 📧 metamatpodcast@gmail.com
Hier kannst du dir gerne die Folge: Was Yoga wirklich bedeutet und was davon heute noch übrig ist anhören. Folge uns gerne auf Spotify, damit du keine Folge mehr verspasst.
Nächste Woche beschäftigen wir uns mit einem unglaublich spannenden Thema:
Authentisch Yoga unterrichten: Dein 7-Schritte-Fahrplan zu einem authentischen Unterricht und Leben.